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Titel
De l’office à la dignité. L’écolâtre cathédral en France septentrionale du IXe au XIIIe siècle


Autor(en)
Kouamé, Thierry
Reihe
Education and Society in the Middle Ages and Renaissance (57)
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 331 S.
Preis
€ 138,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Bubert, Historisches Seminar, Universität Münster

Die Scholaster (écolâtres), wie die Lehrer der Kathedralschulen auf Deutsch meist genannt werden, hatten es nicht leicht. Ihre Geschichte, die Thierry Kouamé vom 9. bis zum 13. Jahrhundert in Nordfrankreich minutiös nachzeichnet, war geprägt durch eine vielschichtige, von zahlreichen Faktoren bedingte Konkurrenz mit (und Abhängigkeit von) anderen Institutionen, Gruppen und Akteuren, die in unterschiedlicher Weise mit Erziehung und Bildung befasst waren. Die Bischöfe herrschten anfangs streng über ihre Scholaster, Mönche, private Lehrer, später Universitätsmagister waren ebenfalls in der Lehre aktiv, Päpste strebten danach, die Bildung zu regulieren, andere Kanoniker innerhalb des eigenen Kapitels versuchten mitunter, die Kontrolle der Schule an sich zu reißen. Gleichzeitig ist die Entstehung, Etablierung und stetige Veränderung der Funktion des Scholasteramts eingebunden in größere politische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, die von der karolingischen Bildungspolitik, den Gregorianischen Reformen, der „Renaissance“ des 12. Jahrhunderts bis zur Entstehung der Universitäten im frühen 13. Jahrhundert reichen und den Kathedralschulen immer wieder neue Herausforderungen, aber auch große Chancen bescherten. Die Geschichte des Scholasters von Ludwig dem Frommen (gest. 840) bis zum Vierten Laterankonzil (1215) als lineare Erfolgs- oder Verfallsgeschichte mit strahlendem Triumph oder tragischem Verlust zu erzählen, würde sich angesichts dieser vielfältigen Konjunkturen und wechselnden Kontexte, in denen sich die Schulleiter jeweils zu positionieren hatten, von vornherein verbieten. Auf eine derartige narrative Versuchung lässt sich der Autor auch gar nicht erst ein. Der akribische und quellengesättigte Zugang von Thierry Kouamé ist differenzierter. In vier großen Kapiteln werden die maßgeblichen Stationen untersucht, die der Scholaster im Untersuchungszeitraum durchlief, und die Bedingungen herausgearbeitet, die sein Amt und seine Tätigkeit in jeweils spezifischen Situationen prägten und veränderten.

Kouamé macht sich zur Aufgabe, anhand konkreter Fälle zu zeigen, wie die Funktion des Schulmeisters innerhalb der kanonischen Gemeinschaft definiert wurde, auf welche Weise es gelang, das Amt in die Kathedralkapitel zu integrieren, wie der Scholaster seine Tätigkeit im Speziellen ausübte und welche schulmäßigen Sonderrechte und administrativen Aufgaben ihm zukamen. Eine solche detaillierte und empirisch fundierte Betrachtung erlaubt es ihm dann, in anschaulicher Weise zu erklären, in welcher konkreten Hinsicht die Gregorianischen Reformen oder die Entstehung der Universitäten eine Veränderung der Funktion und gesellschaftlichen Stellung des Scholasters bewirkt haben. Zu diesem Zweck wurden die vier großen nordfranzösischen Kirchenprovinzen von Reims, Rouen, Sens und Tours mit insgesamt 39 Kathedralen untersucht. Während Einzelstudien zu diesen Kathedralen teilweise schon vorliegen, stellt eine derartige vergleichende Analyse eine Pionierleistung dar. Die raum-zeitliche Einschränkung des Untersuchungsfelds ist klug gewählt, da damit nicht nur die entscheidende heiße Phase der Emergenz und Transformation des Scholasteramts, sondern auch eine Region in den Blick genommen wird, die mit Chartres, Reims oder Paris sowohl die berühmten gelehrten Zentren der Zeit als auch oft weniger beachtete Kathedralschulen, wie Thérouanne, umfasst und interessante Vergleichsoptionen zwischen sehr unterschiedlich strukturierten Kathedralkapiteln eröffnet.

Die Geschichte beginnt im ersten Kapitel mit den Karolingern. Ein bestimmtes Amt, einen spezifischen Akteur, der mit der Lehre in den Schulen betraut sein sollte, hatte man in der Zeit Karls des Großen, wie Kouamé betont, noch nicht vor Augen gehabt. Wenn in den frühen Kapitularien oder auf den Konzilien von Lehre und Unterricht die Rede war, dann war damit allein die Aufgabe der Bischöfe und Priester angesprochen, die Gläubigen zu instruieren. Die Epistola generalis und die Epistola de litteris colendis, die den Klerus des Reichs dazu aufforderten, die Schrift und die Artes liberales zu studieren, erwähnten lediglich die Lehre der Bischöfe und Äbte. Karl der Große empfahl 794 in Frankfurt den Bischöfen, ihre Untergebenen zu belehren. Wie Kouamé zu Recht festhält, scheint der Hof unter Karl dem Großen eine Ablösung der Schulfunktion von den sonstigen administrativen Aufgaben des Klerus gerade nicht angestrebt zu haben.

Dieser Befund erinnert an das, was Sita Steckel in ihrer Studie von 2011 mit dem Konzept der „geistlichen Lehre“ beschrieben hat, die als Aufgabe der Bischöfe auch gar nicht mit schulischem Unterricht im engeren Sinne verbunden sein musste, sondern vielmehr eine spirituelle Unterweisung oder Vorbildfunktion meinen konnte. Eine Entkopplung von geistlicher Lehre und gelehrter Wissensvermittlung hatte Steckel erst im 11. Jahrhundert beobachtet.1 Auch Kouamé betont nachdrücklich, dass das 11. Jahrhundert jene Zeit ist, in der das Amt des Scholasters beginnt, in den Quellen scharfe Konturen anzunehmen. Ein erster Schritt auf diesem Weg war gleichwohl, auch dies zeigt Kouamé, bereits die Kirchenreform Ludwigs des Frommen, die darauf zielte, einen eigenen gelehrten Akteur für den Unterricht in den Kathedralen zu installieren. Doch diese Maßnahmen führten noch nicht zur umfassenden Etablierung eines Amts mit eigener Bezeichnung. Neben scholasticus begegnen ebenso grammaticus, doctor, lector, caput scolae oder magister in den Quellen, ohne dass immer klar wäre, was damit gemeint ist.

Kapitel 2 widmet sich der Position des Scholasters innerhalb des Kathedralkapitels. Hing er zu Beginn ganz von seiner Ernennung durch den Bischof ab (was bei Streitfällen dazu führen konnte, dass er seinen Posten wieder räumen musste), so erlangten mit der Zeit die Kanoniker des Kapitels mehr Mitspracherecht bei der Auswahl des Schulleiters. Doch der soziale Rang des Scholasters in den Kapiteln sollte bescheiden bleiben. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war sein Amt in 19 von 39 Kathedralen Nordfrankreichs zu einer Dignität erhoben worden, aber in den meisten Fällen rangierte der Scholaster auf dem letzten oder vorletzten Platz unter den Dignitäten. Einige Kapitel wiesen die Aufgabe auch schlicht einem anderen Amtsträger zu, wie dem Vorsänger, dem Kanzler oder Erzdiakon, womit die Funktion jede Sichtbarkeit und Autonomie einbüßte. Diesen Befund hinsichtlich der offiziellen sozialen Hierarchie der Kapitel kontrastiert Kouamé allerdings mit der konkreten Praxis der Schulmeister. Denn trotz ihrer verhältnismäßig geringen Stellung wurden diesen mitunter bedeutende politische Missionen übertragen, denen sie außerhalb ihrer Schulverpflichtungen nachgingen. Ihr intellektuelles Kapital wussten einige Schulmeister dabei erfolgreich einzusetzen. Scholaster waren im Auftrag ihrer Kapitel als Verhandler und Berater aktiv, nahmen an Gesandtschaften zu Päpsten und Fürsten teil. Den geschicktesten Strategen unter ihnen konnten es sogar gelingen, die ultimative Stufe der Karriereleiter zu erklimmen und sich an Spitze ihrer Kathedralkirche zu setzen.

So zeichnet Kouamé ein ambivalentes Bild von der Situation der Scholaster. Die gesamte intellektuelle Entwicklung des 12. Jahrhunderts hatte den Status des Schulmeistes zweifellos aufgewertet, denn gelehrte Fähigkeiten waren nun gefragt und boten große Chancen. Doch zur selben Zeit konstituierten sich die Kapitel als Körperschaften mit einer sozialen Hierarchie, die den Scholaster auf die untersten Ränge verwies.

Das dritte Kapitel handelt von den konkreten Aufgaben und Vorrechten der Schulleiter. Dabei zeigt Kouamé zunächst, dass es in den gelehrten Zentren durchaus üblich war, bestimmte administrative oder pädagogische Tätigkeiten an Helfer zu delegieren. So übernahmen diese mitunter den elementaren Grammatikunterricht, während sich der Schulmeister den höheren Disziplinen und der Theologie widmete. Darüber hinaus waren die Scholaster seit dem 12. Jahrhundert mit der Multiplikation von privaten Schulen in zahlreichen französischen Städten konfrontiert, die Zuständigkeitsfragen aufwarf. Den Leitern der Kathedralschulen, denen die Verleihung der licentia docendi zukam, gelang es dabei, eine gewisse Vorrangstellung unter den Lehrern der Bischofsstädte aufrechtzuerhalten. Doch ihre Jurisdiktion über die Schulen blieb beschränkt. Diese konnten sie nur noch für ihre eigenen Schüler geltend machen, aber selbst dabei ergaben sich mitunter interne Konflikte mit den Kantoren, die ja ebenfalls eine Schule in der Kathedrale, die schola cantorum, betrieben.

Das große Thema der Auswirkungen der Gregorianischen Reformen ist schließlich Gegenstand von Kapitel 4. Um ihr Reformanliegen zu propagieren, griffen die Gregorianer auf ein Dekret Papst Eugens II. von 826 zurück, das vorschrieb, Lehrer für die Artes liberales und die Heilige Schrift in allen Diözesen zu installieren. Nachdem es über zweihundert Jahre in Vergessenheit geraten war, wurde dieses Dekret am Ende des 11. Jahrhundert im Lichte der universellen Ambitionen des Reformpapsttums reinterpretiert. Zugleich entbrannte eine Debatte um die Rolle des Mönchtums in der neuen Gregorianischen Ordnung, in welcher die Reformer den Mönchen das Recht absprachen, zu predigen und öffentlich zu lehren. Wie Kouamé zeigt, war es nicht zuletzt im Fahrwasser dieser Diskussionen, dass die Scholaster der Kathedralen ihre Zuständigkeit als Lehrer weiter festigen und ausweiten konnten. Wenngleich dies grundsätzlich den Reformanliegen entsprach, so riefen die Bestrebungen der Schulmeister, die die licentia docendi mitunter gegen Geld verliehen, jedoch bald wiederum Regulierungsmaßnahmen seitens des Papsttums hervor. Alexander III. verfügte im Zuge des dritten Laterankonzils von 1179, dass die licentia docendi gratis an alle zu verleihen sei, die sich als fähig für die Lehre erwiesen. Die Verleihung der Lizenz sollten die Scholaster künftig nicht mehr ohne gewichtigen Grund verweigern können.

Thierry Kouamé arbeitet damit überzeugend heraus, dass auch die Gregorianische Reform für die Scholaster einen höchst ambivalenten Effekt hatte. Obwohl sie ihre Funktion grundsätzlich stärkte, legte sie den Schulleitern gleichzeitig enge Beschränkungen auf. Es waren nicht zuletzt diese Einschränkungen ihrer Kompetenz, die die Scholaster nicht gut dastehen ließen, als sie ihre Position mit der Entstehung der Universitäten im frühen 13. Jahrhundert mehr denn je herausgefordert sahen. Der Kanzler von Notre Dame, dem in Paris die Kathedralschule unterstellt war, verlieh zwar offiziell noch die Lizenz zu lehren; alle anderen Kompetenzen des Scholasters in Bezug auf die Lehre sollten gleichwohl bald von den Universitätsmagistern übernommen werden. Die Autonomisierung des universitären Feldes, so Kouamé, ließ den alten Schulmeister hinter sich.

Die Studie von Thierry Kouamé ist kein Buch, dass hitzige Forschungsdebatten anstoßen oder seinen Leser:innen den Schlaf rauben wird. Mit kühnen Thesen tritt das Werk nicht auf. Kouamé grenzt sich auch nicht polemisch von anderen Forschungsstimmen ab. Das ist keinesfalls ein Mangel dieses Buchs. Die Darstellung bleibt sachlich, fokussiert, hoch konzentriert auf den Gegenstand der Untersuchung. Und diese Untersuchung ist grundlegend. Nicht nur wer die Genese und Transformation des Scholasteramts im Detail nachvollziehen will, wird hier voll auf seine Kosten kommen, auch andere Forschungsansätze, etwa in Bezug auf Expertenkulturen des Mittelalters, werden fruchtbar daran anzuknüpfen wissen.

Anmerkung:
1 Sita Steckel, Kulturen des Lehrens im Früh- und Hochmittelalter. Autorität, Wissenskonzepte und Netzwerke von Gelehrten (Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 39), Köln 2011.

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